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Offener Brief von Juri Andruchowytsch an alle Europäer
Liebe Freunde und vor allem liebe Journalisten und Presseredakteure im Ausland!
In diesen Tagen erhalte ich von euch sehr viele Fragen und Bitten, die aktuelle Situation in Kiew und in der Ukraine im allgemeinen darzustellen und nach Möglichkeit eigene Zukunftsvision mindestens für die nächste Zeit zu formulieren. Da ich einfach nicht im Stande bin, an jede von euren Zeitschriften einen ausführlichen analytischen Beitrag zu verfassen, habe ich beschlossen, mich kurz an euch zu wenden, damit jeder von euch die Informationen hier je nach dem Bedarf verwenden kann. Die wichtigsten Informationen, die ich hier mitzuteilen habe, sind folgende. In nicht einmal vier Jahren seiner Amtszeit hat Janukowytsch die Situation im Staat und in der ukrainischen Gesellschaft bis zum äußersten Spannungsgrad zugespitzt. Noch schlimmer – er hat sich selber in eine Sackgasse getrieben, da er in dieser Situation ewig an der Macht bleiben soll und auch seine Macht mit jeglichen Mitteln aufrechterhalten will. Sonst beginnt für ihn eine rigorose kriminelle Verantwortung. Die Ausmaße von Diebstahl und Unterdrückung übersteigen alle Vorstellungen von menschlicher Gier. Die einzige seit über zwei Monaten von dem Regime angewendete Antwort auf die friedlichen Proteste ist die eskalierende Gewalt, die man als eine Art „kombinierte“ Gewalt bezeichnen kann: einerseits erfolgen Angriffe der Polizeieinheiten auf den Majdan, andererseits werden oppositionelle Aktivisten und die einfachen Teilnehmer der Protestaktionen einzeln verfolgt (Beschattung, Prügeln, Anzünden von Autos und Häusern, Einbrüche in Wohnungen, Verhaftungen, Rollbände der Gerichtsprozesse). Einschüchterung wird zum Schlüsselwort. Da die Einschüchterungen keine Wirkung zeigen und die Menschen immer zahlreicher protestieren, greift die Regierung zu immer brutaleren Repressalien. Eine gesetzliche Basis für die Repressalien wurde am 16. Januar geschaffen, als die vom Präsidenten voll und ganz abhängigen Abgeordneten mit allen erdenklichen Reglements-, Tagesordnungs- , Abstimmungsprozedur- und Grundgesetzverletzungen mit dem Händeheben (!) höchstens paar Minuten lang (!) eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet haben, die das Land mit Sicherheit in eine Diktatur und einen Ausnahmezustand führen, auch wenn der Ausnahmezustand gar nicht verhängt wird. Während ich, um nur ein Beispiel anzuführen, diese Zeilen schreibe und weiterleite, kann ich gleich nach mehreren Artikeln vor Gericht erscheinen: für „Verleumdung“, „Aufwiegeln“ u.ä. Mit einem Wort: werden diese „Gesetze“ anerkannt, kann jeder behaupten, in der Ukraine sei alles verboten, was durch die Regierung nicht erlaubt ist. Und die Regierung gibt ihr Erlaubnis nur für das Eine: den unbedingten Gehorsam der Regierung gegenüber. Die ukrainische Gesellschaft konnte sich mit solchen „Gesetzen“ nicht zufrieden geben, deshalb begannen schon wieder am 19. Januar die Massenproteste, in denen es um die Zukunft des Landes geht. Heute kann man in TV-Nachrichten aus Kiew Protestierende in unterschiedlichsten Helmen und in Gesichtsschutzmasken sehen, manchmal halten sie Holzknüppel in den Händen. Sie dürfen nicht glauben, dass Sie „Extremisten“, „Provokateure“ oder „Rechtsradikale“ vor sich haben. Sowohl ich wie auch alle meine Freunde erscheinen nun zu den Kundgebungen in solcher Ausrüstung. So schnell sind wir – ich, meine Frau, meine Tochter, meine Freunde – zu Extremisten geworden. Wir haben keinen anderen Ausweg, unser Leben und unsere Gesundheit zu verteidigen. Auf uns zielen die Kämpfer der Polizeieinheiten, unsere Freunde werden von ihren Scharfschützen getötet. Die Zahl der Protestierenden, die allein im Regierungsviertel in den letzten zwei Tagen getötet wurden, beträgt nach unterschiedlichen Angaben zwischen 5 und 7 Personen. Die Verschollenen in ganz Kiew zählt man bereits in Dutzenden. Wir können mit den Protesten nicht aufhören, weil das bedeuten würde, wir nehmen unser Land als ein lebenslanges Gefängnis in Kauf. Die jungen Ukrainer, die postsowjetischen Generationen, vertragen keine Diktatur mehr. Wenn die Diktatur siegt, muss Europa mit der Perspektive rechnen, ein Land wie Nordkorea an der europäischen Ostgrenze zu bekommen. Außerdem wird das für Europa eine Flut von Flüchtlingen zwischen 5 und 10 Millionen bedeuten. Ich möchte niemanden erschrecken. Unsere Revolution ist die Revolution der Jugend. Und diesen nicht erklärten Krieg führt die Regierung vor allem gegen die Jugend. Mit der nächtlichen Dunkelheit erscheinen auf den Kiewer Straßen undefinierte Menschengruppen „in Zivil“. Sie machen hauptsächlich Jagd auf die jungen Menschen, die kleine Abzeichen oder Markierungen des Majdans oder der EU tragen. Die Jugendlichen werden gefasst, in Wälder gebracht, nackt ausgezogen und im harten Frost gefoltert. Ist es Zufall, dass junge Künstler– Theaterdarsteller, Maler, Dichter – auffallend oft Opfer dieser Überfälle werden? Man gewinnt den Eindruck, dass im Lande etwas wie „Todesschwadronen“ walten, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Besten auszurotten. Und noch ein bemerkenswertes Detail: in den Kiewer Krankenhäusern werden den protestierenden Verletzten Polizeifallen gestellt. Die Protestierenden (ich muss das noch einmal betonen: die verletzten Protestierenden!) werden in Krankenhäusern gefasst und zu Verhören an unbekannte Orte gebracht. Sogar für die zufälligen Opfer einer Polizeigranate ist es gefährlich geworden, einen Arzt aufzusuchen. Die Ärzte zucken die Achseln und liefern ihre Patienten den sogenannten „Rechtsschützern“ aus. Zusammenfassend möchte ich sagen: in der Ukraine geschehen massenhaft Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und die Verantwortung für die Verbrechen trägt die jetzige Staatsmacht. Wenn man hier von Extremisten spricht, kann das nur auf die Staatsmacht zutreffen. Und nun zu den beiden traditionell kompliziertesten Fragen: ich weiß nicht, was weiter geschieht, so wie ich nicht weiß, was Sie heute für uns tun könne. Sie können immerhin diesen Artikel hier weiterleiten und publizieren. Was noch? – Seid in Gedanken bei uns. Denkt an uns. Wir werden auf jeden Fall siegen, wie grausam die da auch vorgehen mögen. Die Ukrainer verteidigen heute buchstäblich mit eigenem Blut die europäischen Werte einer freien und gerechten Gesellschaft. Und meine Hoffnung besteht darin, dass Sie das zu schätzen wissen.
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Offener Brief von Juri Andruchowytsch an alle Europäer
Liebe Freunde und vor allem liebe Journalisten und Presseredakteure im Ausland!
In diesen Tagen erhalte ich von euch sehr viele Fragen und Bitten, die aktuelle Situation in Kiew und in der Ukraine im allgemeinen darzustellen und nach Möglichkeit eigene Zukunftsvision mindestens für die nächste Zeit zu formulieren. Da ich einfach nicht im Stande bin, an jede von euren Zeitschriften einen ausführlichen analytischen Beitrag zu verfassen, habe ich beschlossen, mich kurz an euch zu wenden, damit jeder von euch die Informationen hier je nach dem Bedarf verwenden kann. Die wichtigsten Informationen, die ich hier mitzuteilen habe, sind folgende. In nicht einmal vier Jahren seiner Amtszeit hat Janukowytsch die Situation im Staat und in der ukrainischen Gesellschaft bis zum äußersten Spannungsgrad zugespitzt. Noch schlimmer – er hat sich selber in eine Sackgasse getrieben, da er in dieser Situation ewig an der Macht bleiben soll und auch seine Macht mit jeglichen Mitteln aufrechterhalten will. Sonst beginnt für ihn eine rigorose kriminelle Verantwortung. Die Ausmaße von Diebstahl und Unterdrückung übersteigen alle Vorstellungen von menschlicher Gier. Die einzige seit über zwei Monaten von dem Regime angewendete Antwort auf die friedlichen Proteste ist die eskalierende Gewalt, die man als eine Art „kombinierte“ Gewalt bezeichnen kann: einerseits erfolgen Angriffe der Polizeieinheiten auf den Majdan, andererseits werden oppositionelle Aktivisten und die einfachen Teilnehmer der Protestaktionen einzeln verfolgt (Beschattung, Prügeln, Anzünden von Autos und Häusern, Einbrüche in Wohnungen, Verhaftungen, Rollbände der Gerichtsprozesse). Einschüchterung wird zum Schlüsselwort. Da die Einschüchterungen keine Wirkung zeigen und die Menschen immer zahlreicher protestieren, greift die Regierung zu immer brutaleren Repressalien. Eine gesetzliche Basis für die Repressalien wurde am 16. Januar geschaffen, als die vom Präsidenten voll und ganz abhängigen Abgeordneten mit allen erdenklichen Reglements-, Tagesordnungs- , Abstimmungsprozedur- und Grundgesetzverletzungen mit dem Händeheben (!) höchstens paar Minuten lang (!) eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet haben, die das Land mit Sicherheit in eine Diktatur und einen Ausnahmezustand führen, auch wenn der Ausnahmezustand gar nicht verhängt wird. Während ich, um nur ein Beispiel anzuführen, diese Zeilen schreibe und weiterleite, kann ich gleich nach mehreren Artikeln vor Gericht erscheinen: für „Verleumdung“, „Aufwiegeln“ u.ä. Mit einem Wort: werden diese „Gesetze“ anerkannt, kann jeder behaupten, in der Ukraine sei alles verboten, was durch die Regierung nicht erlaubt ist. Und die Regierung gibt ihr Erlaubnis nur für das Eine: den unbedingten Gehorsam der Regierung gegenüber. Die ukrainische Gesellschaft konnte sich mit solchen „Gesetzen“ nicht zufrieden geben, deshalb begannen schon wieder am 19. Januar die Massenproteste, in denen es um die Zukunft des Landes geht. Heute kann man in TV-Nachrichten aus Kiew Protestierende in unterschiedlichsten Helmen und in Gesichtsschutzmasken sehen, manchmal halten sie Holzknüppel in den Händen. Sie dürfen nicht glauben, dass Sie „Extremisten“, „Provokateure“ oder „Rechtsradikale“ vor sich haben. Sowohl ich wie auch alle meine Freunde erscheinen nun zu den Kundgebungen in solcher Ausrüstung. So schnell sind wir – ich, meine Frau, meine Tochter, meine Freunde – zu Extremisten geworden. Wir haben keinen anderen Ausweg, unser Leben und unsere Gesundheit zu verteidigen. Auf uns zielen die Kämpfer der Polizeieinheiten, unsere Freunde werden von ihren Scharfschützen getötet. Die Zahl der Protestierenden, die allein im Regierungsviertel in den letzten zwei Tagen getötet wurden, beträgt nach unterschiedlichen Angaben zwischen 5 und 7 Personen. Die Verschollenen in ganz Kiew zählt man bereits in Dutzenden. Wir können mit den Protesten nicht aufhören, weil das bedeuten würde, wir nehmen unser Land als ein lebenslanges Gefängnis in Kauf. Die jungen Ukrainer, die postsowjetischen Generationen, vertragen keine Diktatur mehr. Wenn die Diktatur siegt, muss Europa mit der Perspektive rechnen, ein Land wie Nordkorea an der europäischen Ostgrenze zu bekommen. Außerdem wird das für Europa eine Flut von Flüchtlingen zwischen 5 und 10 Millionen bedeuten. Ich möchte niemanden erschrecken. Unsere Revolution ist die Revolution der Jugend. Und diesen nicht erklärten Krieg führt die Regierung vor allem gegen die Jugend. Mit der nächtlichen Dunkelheit erscheinen auf den Kiewer Straßen undefinierte Menschengruppen „in Zivil“. Sie machen hauptsächlich Jagd auf die jungen Menschen, die kleine Abzeichen oder Markierungen des Majdans oder der EU tragen. Die Jugendlichen werden gefasst, in Wälder gebracht, nackt ausgezogen und im harten Frost gefoltert. Ist es Zufall, dass junge Künstler– Theaterdarsteller, Maler, Dichter – auffallend oft Opfer dieser Überfälle werden? Man gewinnt den Eindruck, dass im Lande etwas wie „Todesschwadronen“ walten, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Besten auszurotten. Und noch ein bemerkenswertes Detail: in den Kiewer Krankenhäusern werden den protestierenden Verletzten Polizeifallen gestellt. Die Protestierenden (ich muss das noch einmal betonen: die verletzten Protestierenden!) werden in Krankenhäusern gefasst und zu Verhören an unbekannte Orte gebracht. Sogar für die zufälligen Opfer einer Polizeigranate ist es gefährlich geworden, einen Arzt aufzusuchen. Die Ärzte zucken die Achseln und liefern ihre Patienten den sogenannten „Rechtsschützern“ aus. Zusammenfassend möchte ich sagen: in der Ukraine geschehen massenhaft Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und die Verantwortung für die Verbrechen trägt die jetzige Staatsmacht. Wenn man hier von Extremisten spricht, kann das nur auf die Staatsmacht zutreffen. Und nun zu den beiden traditionell kompliziertesten Fragen: ich weiß nicht, was weiter geschieht, so wie ich nicht weiß, was Sie heute für uns tun könne. Sie können immerhin diesen Artikel hier weiterleiten und publizieren. Was noch? – Seid in Gedanken bei uns. Denkt an uns. Wir werden auf jeden Fall siegen, wie grausam die da auch vorgehen mögen. Die Ukrainer verteidigen heute buchstäblich mit eigenem Blut die europäischen Werte einer freien und gerechten Gesellschaft. Und meine Hoffnung besteht darin, dass Sie das zu schätzen wissen.
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